Der kühle Wind wehte sanft die Böschung herab und ließ das feuchte Gras tanzen. Der Mond stand hoch am Himmel und durch die sternenklare Nacht konnte man mit viel Fantasie seltsame Schatten darauf entdecken. Es roch noch immer nach Regen. Als würde die Welt begierig darauf warten, von Neuem begossen zu werden.
Das Knirschen der Dielen, auf denen sie hin und her lief durchbrach, die Stille der Nacht.
Immer wieder sah sie aus dem Fenster. Sie war nervös. Schon viel zu lange wartete sie auf ihn, doch er kam einfach nicht.
Ihr Name war Sibylla. Sie war in dieser Nacht aus dem Haus geschlichen, um sich einem Mann anzuschließen, ihm blind zu folgen. Für alle war er ein Fremder, doch für sie war er die Welt. Ein Mann von dem ihre Eltern nichts wissen durften, der ganz und gar nicht ihrem Stand entsprach. Seine Kleidung war edel, sein Auftreten nobel. Er konnte lesen, schreiben und sprach mit ihr so offen und frei, dass er sie schlichtweg in seinen Bann zog.
Seit Wochen trafen sie sich heimlich in diesem alten, leer stehenden Haus. Nichts geschah zwischen ihnen, er rührte sie nicht an. Er redete nur. Erzählte ihr fantastische Geschichten und machte ihr Versprechungen, die ihre Wangen zum Glühen brachten und ihre Hoffnungen schürten.
"Die Tatsache, dass er mich nicht entehrt, obwohl er oft die Möglichkeit dazu hat, spricht doch für ihn".
Immerzu sagte Sibylla sich dies, wenn sie zu zweifeln begann, wie in diesem Augenblick. Doch ihr täglicher Hunger, die lieblosen Worte ihrer Mutter, die Angst vor der Schlagkraft ihres Vaters und das Wissen über ihre ungewisse Zukunft schoben sie regelrecht in seine Arme.
Müde lehnte sich Sibylla gegen die feuchte Wand des Hauses und spürte den Wind, der sich durch das alte Gemäuer schlich.
Auf dem schmutzigen Tisch vor ihr lag alles, was sie das Ihre nennen konnte, ihr Hab und Gut zu einem Beutel zusammen geschnürt. Es war nicht viel, ein Kamm aus Holz, von ihrem Bruder geschnitzt, eine zweite Bluse und einen weiteren Unterrock. Einen Haufen toter Dinge.
Schon das kleinste Geräusch brachte sie dazu sich aufmerksam umzublicken, denn wenn man sie hier entdeckte, dann würde man sie in den Turm stecken und der Unzucht anklagen. Einem Bauernding, welches sich des Nachts mit einem Mann traf, würde man niemals Glauben schenken noch unangetastet zu sein.
Müde rieb sie sich ihr ausgekühltes Gesicht und atmete einmal tief durch. Sollte er wirklich nicht kommen? Ihre grünen Augen röteten sich und schnell hingen Tränen in ihren langen dunklen Wimpern. Sie blickte zum Mond hinauf und sein Licht spiegelte sich in ihnen. Ihr Herz wurde schwer bei dem Gedanken, sich so in ihm getäuscht zu haben. Nervös knetete Sibylla ihre Hände, bis sie rot waren und schmerzten.
Auf einmal stockte ihr Atem. Ein Geräusch! Etwas näherte sich langsam mit bedachten Schritten der Tür.
War er es? Würde es endlich so weit sein? Konnte sie nun endlich diesen grauenvollen Ort verlassen?
Die Nacht in der sie ihm zum ersten Mal begegnet war, war eine Vollmondnacht wie diese. Ein von Sternen durchfluteter Himmel und klare kühle Luft. Sie war auf dem Weg nach Hause von ihrer kranken Tante.
Nichts hatte ihn angekündigt. Keine Äste die brachen, kein Atem, nicht einmal sein Geruch. Er erschien einfach aus dem Nichts. Plötzlich stand er vor ihr auf dem Weg und sie hatte fürchterlich Angst. Doch nur für einen unscheinbaren Augenblick. Lange standen sie sich im sicheren Abstand gegenüber und sahen sich schweigend an. Keiner rührte sich. Dann kam er langsam auf sie zu. In ihrem Kopf hörte sie die Vorsicht laut rufen, schreien, doch konnte sie sich ihm nicht entziehen. Dicht vor ihr blieb er stehen und sah Sibylla tief in die Augen. Seine schienen leer zu sein, dunkel und geheimnisvoll wie die Nacht. Doch sein Lächeln war warm und freundlich. Sybillas Gesicht hingegen rührte sich nicht.
„Guten Abend, wohin unterwegs so spät?“
Als sich seine tiefe Stimme in ihr Bewusstsein bohrte fing sie sich wieder. Ihr Kopf übernahm die Kontrolle über ihren Körper und sie sprach kühl zu ihm:“ Nach Hause, man wartet bereits auf mich.“
Schnell huschte sie an ihm vorbei, doch noch schneller stand er wieder vor ihr. Sie konnte die Lichter ihres Hauses in der Ferne schon sehen, fast die wütende Stimme ihres Vaters hören.
„Bitte, ich muss nach Hause. Ich will keinen Ärger bekommen.“
Sie sah, wie sich seine seidenglatte weiße Haut in falten legte und auf einmal hatte sie das Gefühl, jemand wühlte in ihren Gedanken. Fast unmerklich griff sie sich an ihre Schläfe und hörte dumpf seine Stimme:“ Seine Schläge sind hart, nicht wahr?“
Verwundert sah Sibylla ihn an und nickte, ohne zu wissen weshalb. Sein Blick glitt über seine Schulter hinüber zu den Lichtern und nach kurzem Zögern meinte er:" Ich kann dir helfen..., wenn du das möchtest?“
Ohne es steuern zu können nickte sie erneut. Was geschah hier nur? Noch nie in ihrem Leben fühlte sie sich so willenlos. Sie stand einem Fremden gegenüber und war bereit, ihr Leben in seine Hände zu legen.
„Komm morgen zu der alten Hütte am Berghang, dann reden wir.“
Und schon war er von der Dunkelheit verschlungen, genauso leise wie er ihr erschienen war. Ihr Herz schlug schnell, viel zu schnell, und sie fasste sich an die Brust und hoffte es somit beruhigen zu können.
Sie kam, und in der nächsten Nacht auch und in den darauf folgenden Nächten. Sie redeten und langsam baute sich ein Gefühl in ihrem Innern auf, das sie nur als Liebe identifizieren konnte. Oder war es einfach nur ihre Hilflosigkeit? Das bittere Verlangen beschützt zu werden!
Als könnte die Wand sie verschlingen, vor Gefahren beschützen, drückte Sybilla sich in den Schatten gegen das kalte und nasse Gestein. Sie vermochte es nicht, ihren Atem zu beruhigen. Er war laut, schnell und ungleichmäßig.
Die Tür wurde vorsichtig geöffnet und ein fürchterliches Quietschen durchbrach diese unerträgliche Stille. Sibylla sah zuerst seine Stiefel und dann ihn. Endlich, er war gekommen!
Hastig trat sie aus dem kühlen Schatten und erstarrte. Seine Augen. Sie blickten irgendwie anders als sonst auf sie herab und waren von dunklen Ringen umgeben. Sein Gesicht war bleicher als je zuvor und sein Haar war nass vom vergangenen Regen. Er musste schon Stunden unterwegs gewesen sein, doch kam er erst jetzt zu ihr.
Sibylla lehnte sich wieder in den Schatten und sagte keinen Ton. Er konnte den Dunst ihres schweren Atems im Mondlicht sehen. Zögerlich sah er auf ihren Beutel und dann in die Dunkelheit hinein, in die sie zurückgekehrt war.
„Weshalb bist du gekommen, wenn du dein Versprechen nicht hältst?“
Er sah sie nicht, er hörte nur ihre Stimme und erkannte tiefe Traurigkeit darin. Schwerfällig lehnte er sich gegen den brüchigen Rahmen der Tür, bevor er ihr leise antwortete:“ Ich werde mein Versprechen halten. “
Sibylla trat zögernd aus ihrer schützenden Ecke. Spuren von Tränen schimmerten im Mondlicht auf ihren Wangen.
"Doch du musst mich darum bitten!“
Sibylla verstand nicht und sah ihn fragen an, brachte aber keinen Ton heraus. Mit zwei großen Schritten stand er vor ihr und sagte noch einmal, etwas eindringlicher, noch ernster:“ Du musst mich darum bitten! Du musst mich bitten, dich aus diesem Leben zu befreien. Dir ein neues zu schenken, nur so können wir zusammen sein.“
„Was redest du denn da für einen Unsinn, Joshua? Ich habe zwei Möglichkeiten, entweder ich folge dir oder ich bleibe hier. Ich muss dich nicht bitten mich zu befreien.“
Verwirrt trat sie einen Schritt zurück. So seltsam war er noch nie gewesen, und dann dieser Ausdruck in seinem Gesicht. Er schien ihr fremd zu sein. Warum musste nun alles so kompliziert werden? Seine unzähligen Worte in den vielen Nächten, waren doch so einfach.
Er sah, wie sie vor ihm zurückwich und packte hastig ihre Hand. Zum ersten Mal berührte er sie und Sibylla zuckte unweigerlich zusammen.
„Vertraue mir..., bitte. Ich kann es dir nicht erklären. Diese Worte würden deine Vorstellungskraft überschreiten und du würdest dich aus Angst und Unverständnis von mir Abwenden. Du würdest glauben den Verstand zu verlieren. Doch kann ich dies nicht zulassen…"
Er zögerte kurz bevor er hinzufügte:" Denn ich brauche dich!“
Sibylla erkannte in seinen Augen den Ernst der Lage und spürte am Druck seiner Hand wie wichtig ihm diese Worte von ihr waren. Noch nie zeigte er ihr so offen seine Zuneigung. Zögerlich sah sie zu Boden und meinte dann:“ Also gut. Ich verstehe zwar nicht weshalb ich das sagen soll, doch werde ich es dir zu liebe tun. Ich bitte dich, hilf mir, rette mich aus diesem Leben.“
Er schien nicht glücklich über ihre Worte zu sein, denn geschockt sah er zu Boden und nickte. Regungslos stand sie da und versuchte ihn zu verstehen. Sein sichtliches Entsetzen machte ihr Angst, hatte er doch gewollt, dass sie dies zum ihm sagte.
Auf einmal hob er seinen Kopf wieder an und Sibylla erschrak. Ein gepresster Schrei entrann ihrer Kehle, denn ihr blickten blutrote Augen entgegen. Sie wollte fortlaufen, zog verzweifelt an ihrer Hand, die noch immer in der seinen lag. Doch sein Griff war unnachgiebig. Die nackte Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben und Panik schoss aus ihren Augen zu ihm herüber. Noch immer sah er sie traurig an und sagte leise, fast unhörbar:“ Bitte vergib mir.“
Kraftvoll zog er sie an seine Brust und schob ihr rotes Haar beiseite. Sibylla war starr vor Angst. Jetzt lang ihr Hals frei, ihre dünne Haut leuchtete ihn an und die Ader darunter pochte zur Aufforderung noch etwas heftiger. Er spürte unter seinem Griff wie sie zitterte, sie bebte regelrecht. Endlich konnte er an ihr riechen, sie ganz und gar in sich aufnehmen. Dann biss er zu. Nur ein Stöhnen war von Sibylla zu hören und dann war da wieder diese unerträgliche Stille der Nacht.
Ihr war, als würde ein Fluss durch ihren Körper rauschen. Ihre Lider waren schwer, ihre Augen brannten. Doch sonst war da nichts. Ihr Herz, sie hörte ihr Herz nicht schlagen. Hastig griff sie sich an ihre Brust, nichts.
„Es wird sich nie wieder rühren.“
Eine monotone ihr bekannte Stimme brachte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Hastig erhob sie sich vom harten Boden und sah sich in der Dunkelheit um. Sofort erkannte Sibylla Joshua auf dem Boden ihr gegenüber sitzend. Da kamen auch wieder die Erinnerungen zurück, sie erschlugen sie fast. Hastig griff sie sich an den Hals.
„Was hast du getan?“
Sibyllas Stimme brach, als sie ihm die Frage stellte, deren Antwort sie längst schon kannte, sie war tief in ihrer Erinnerung eingebrannt.
„Ich habe dich befreit, dich aus deinem alten Leben gerettet. Jetzt kann dir keiner mehr Schmerzen zufügen.“
„Was hast du nur getan“, wiederholte sie leise und plötzlich schrie er sie so laut an, dass sie sichtlich zusammenzuckte:" Ich habe dich befreit, ich habe das getan, worum du mich gebeten hast.“
„Du hast mich getötet, zu einem Geschöpf der Hölle gemacht. Das wollte ich nicht.“
Schrie sie zurück und diesmal erschrak er. Hastig suchte er ihre Augen. Schnell fand er sie und erkannte die Wut in ihnen aufkeimen, den beginnenden Hass. Ihm war bewusst gewesen, das dies geschehen konnte. Er wusste, wenn er einen Menschen biss, konnten all seine bisherigen Gefühle ins Gegenteil umschlagen, nachdem er sich verwandelt hatte. Er wusste, dass er sie damit verlieren konnte. Deshalb tat er sich so schwer, in dieser Nacht zu ihr zu kommen. Lange lief er umher und dachte nach, doch das Ergebnis war immer gleich, er konnte und wollte nicht ohne sie sein. Ob sie ihn hasste oder liebte, er wollte sie nur an seiner Seite wissen. Ihre Augen, ihre Haare, den Geruch ihrer Haut, die Weichheit ihrer Stimme, all dies sollte sich in seiner Nähe befinden.
„Das ist das einzige, was ich für dich tun konnte.“
Meinte er verwirrt. Einen Moment war sie sprachlos. Er hatte sie zu dem gemacht, was er war, um ihr den Schmerz und die Verzweiflung zu nehmen. Dabei wollte sie nur fort, nicht sterben. Sie fühlte sich so leer, alleine und unbeschreiblich wütend.
Langsam erhob sie sich schwankend vom harten Boden. War denn kein Tropfen Blut mehr in ihrem Körper?
Schnell stand er neben ihr und wollte sie packen, doch sie entriss sich seiner helfenden Hand und erklärte ihm kühl:“ Du wolltest mir den Schmerz nehmen? Doch wo ist das Gefühl zu lieben? Ich bin leer, Joshua... Herr Gott, ich bin eine tote Hülle und das schmerzt mehr als alle vorherigen Schläge.“
Langsam schritt sie auf die Tür zu und bevor sie nach draußen in die Nacht trat, erklärte sie ihm:" Den Menschen müssen manchmal Schmerzen widerfahren, um nicht zu vergessen was Liebe bedeutet. Doch das hast du mir alles genommen… Vielleicht sollte ich dir dankbar sein..., vielleicht sollte ich dich auch einfach nur hassen. Ist es nicht das was ihr am Besten könnt?“
Sie trat aus der Tür, schnell lief er ihr nach.
„Wohin gehst du?“
Rief er verzweifelt in die dunkle Nacht. Ohne sich umzublicken, antwortete sie:" Essen, ich habe Hunger.“